Studie beleuchtet die dunklen Seiten von Online-Communitys
Beschimpfungen, Beleidigungen, Drohungen: Manche Online-Communitys sind berüchtigt für ihre toxische Atmosphäre. Eine Studie unter Beteiligung der WU Wirtschaftsuniversität Wien hat dokumentiert, welche Mechanismen dahinterstecken – und warum Menschen, die im realen Leben friedvoll sind, in der Online-Welt verbale Gewalt anwenden.
Online-Communitys sind wichtige Orte des sozialen Miteinanders: In Internet-Foren, Newsgroups, Sub-Reddits oder Facebook-Gruppen treffen sich Menschen aus aller Welt, um über gemeinsame Interessen zu diskutieren. Doch entspannte Diskussionen können plötzlich umschlagen in Hass und Häme, „Flamewars“ – also Streitigkeiten zwischen verfeindeten Gruppen –, Mobbing und Trolling. Langjährige Mitglieder solcher Online-Communitys können oft ein Lied davon singen, wie schnell die Stimmung kippt und sich eine toxische Atmosphäre entwickelt.
„Uns hat interessiert, warum Online-Gemeinschaften, die sich formiert haben, um sich friedlich über ihr Hobby auszutauschen, plötzlich anfangen, einander systematisch brutal verbal zu attackieren“, erzählt Marius Lüdicke, Leiter des Institute for International Marketing Management an der WU Wirtschaftsuniversität Wien.
Gemeinsam mit Olivier Sibai von der University of London und Kristine de Valck von der HEC Paris wollte er dieser Frage auf den Grund gehen: Dafür haben die drei Forscher*innen in einer longitudinalen, qualitativen Studie die Interaktionen einer britischen Online-Community im Verlauf von 18 Jahren analysiert – und konnten dadurch herausfinden, warum und wie sich toxisches Verhalten in Online-Gemeinschaften festsetzt.
Brutalos im Musik-Forum
Die Community, die sie unter die Lupe nahmen, war ein britisches Online-Forum für die Musikrichtung Hard House, das 2001 gegründet wurde und bis 2018 bestand: „Die Clubbing-Kultur dreht sich eigentlich um Spaß und Eskapismus, darum überraschte es mich, wie konfliktgeladen die Atmosphäre dort war“, sagt Erstautor Olivier Sibai.
Das Hard-House-Forum hatte etwa 20.000 Mitglieder, die insgesamt rund sieben Millionen Postings verfassten. Die Forscher*innen haben nicht nur sämtliche Online-Interaktionen in diesem Forum auf Muster von verbaler Gewalt analysiert, Olivier Sibai hat zusätzlich 15 Community-Events im echten Leben besucht und Interviews mit Moderator*innen und Mitgliedern geführt. „Warum diese Menschen online streiten, während sie im realen Leben Freunde sind, war ein großes Rätsel“, sagt er. „Um das zu verstehen, musste ich Teil der Community werden. Und dabei fiel auf, dass Online-Chatten offenbar zu ständiger Frustration und schlussendlich zu einer toxischen Kultur führt.“
Toxische Verhaltensmuster in Online-Communitys: Die Forscher*innen haben drei Konstellationen ausgemacht, die besonders häufig vorkommen: sadistische Unterhaltung, Clan-Kriegsführung und Selbstjustiz.
In der Analyse haben sich drei typische Muster für toxisches Verhalten und verbale Gewalt – in der Fachsprache „Brutalisierung“ genannt – herauskristallisiert. Die Forscher*innen nennen sie „sadistische Unterhaltung“, „Clan-Kriegsführung“ und „Selbstjustiz“.
Sadistische Unterhaltung ähnelt laut den Forscher*innen oft einem Stierkampf: Ein arriviertes Mitglied der Community provoziert dabei ein anderes (oft weniger aktives) Mitglied mit immer drastischeren Beleidigungen, um ihm eine emotionale Reaktion zu entlocken und damit die Gemeinschaft zu unterhalten. Die meisten Beteiligten (mit Ausnahme des Opfers) sehen diese Kämpfe als harmlose Spiele an, bei denen niemand wirklich zu Schaden kommt. Diese Idee ist, so Co-Autor Marius Lüdicke, „eine Form der kulturellen Gewalt, weil sie verletzende Verhaltensweisen als harmlos oder sogar als selbstverschuldet abtut. Die Moderator*innen unternehmen kaum etwas dagegen, weil diese Kämpfe die Gemeinschaft auf Kosten Einzelner beleben können und die Folgen erst später sichtbar werden".
Clan-Kriegsführung bezeichnet Streitigkeiten zwischen zwei Sub-Gruppen in einer Community. Diese Kriege entstehen meist aus einem Streit zwischen zwei Einzelpersonen, bei dem ein Mitglied einem anderen inakzeptables Verhalten vorwirft. Um diese Personen formieren sich Clans, die sich monate- oder sogar jahrelang verbal bekriegen, um entweder die Gemeinschaft vor unwillkommenen Eindringlingen zu schützen (etablierte Clans) oder die alten, konservativen Mitglieder von ihrem Thron zu stürzen (neue Clans). Letztendlich sorgen Clan-Kriege jedoch dafür, dass Mitglieder die Community verlassen, weil sie nicht zur Zielscheibe werden wollen.
Diese ersten beiden Muster von toxischem Verhalten sind oft der Grund für das dritte: Selbstjustiz. Wenn die Moderator*innen sich nicht hinreichend einmischen und die verbale Gewalt beenden, sehen sich die Mitglieder im Recht und in der Pflicht, selbst die Community-Richtlinien durchzusetzen – mittels mehr verbaler Gewalt. Die Forscher*innen nennen dieses Verhalten „verbale Lynchjustiz“: Dabei werden die (vermeintlichen oder tatsächlichen) Übeltäter*innen so lange beleidigt und erniedrigt, bis sie die Online-Community verlassen. Das geht mitunter so weit, dass Morddrohungen ausgesendet werden. Innerhalb der Gemeinschaft wird die Selbstjustiz dadurch legitimiert, dass die Opfer nur die gerechte Strafe für ihr Verhalten bekommen hätten.
Online-Gewalt führt nicht immer zu realer Gewalt
Mit ihrer Studie werfen die Autor*innen ein Schlaglicht auf die dunklen Seiten von Online-Communitys – ein erster Schritt, um solche toxischen Muster zu bekämpfen. Eine wichtige Rolle komme hier den Moderator*innen zu: „Wenn man diese Muster früh erkennt und benennt und sich vor allem gegen die vermeintliche Harmlosigkeit von verbaler Gewalt ausspricht, kann man dieses Verhalten wahrscheinlich eindämmen“, erklärt Marius Lüdicke von der WU. „Inwieweit das funktioniert, müsste aber ebenfalls noch empirisch untersucht werden.“
Zumindest ein Ergebnis der Studie gibt Anlass zum Optimismus: Das toxische Verhalten in dem untersuchten Forum beschränkte sich auf die Online-Welt und griff nicht über auf Treffen in der realen Welt. Dort sei von sadistischer Unterhaltung oder Clan-Kriegen nichts zu bemerken gewesen. Und während des 18-jährigen Bestehens des Forums kam es nur einmal zu einer Schlägerei zwischen zwei Mitgliedern – der einzige dokumentierte Fall von körperlicher Gewalt im realen Leben.
„Verbale Gewalt im Internet darf trotzdem nicht auf die leichte Schulter genommen werden“, warnt Marius Lüdicke von der WU. „Es ist inzwischen hinreichend bewiesen, dass sie zu Depressionen, Angstzuständen, Schamgefühlen und posttraumatischen Belastungsstörungen führen kann, ja sogar die Raten von Selbstverletzung und Selbstmord unter Jugendlichen erhöht. Die Studie trägt dazu bei, Online-Gewalt besser zu verstehen und damit besser auf sie reagieren zu können.“
Details zur Studie und weitere Informationen
Sibai, O., Luedicke, M. K., & De Valck, K. (2024). Why Online Consumption Communities Brutalize. Journal of Consumer Research.
Link zur Studie
Marius Lüdicke ist Professor für Marketing in a Global Economy und leitet das Institute for International Marketing Management an der WU. Er untersucht die Dynamiken des Weltmarkts im Zusammenhang mit existentiellen sozialen Problemen wie Umweltverschmutzung, Diskriminierung und technologischem Wandel mit Methoden der interpretativen Feldforschung.