Gesundheitsdaten: Die Regierung verschwendet unser Potenzial
Wenn die Wissenschaft sicheren Zugang zu Daten hätte, könnte die Politik profitieren - durch wissenschaftliche Evidenz für die Politikgestaltung. In den aktuellen Verhandlungen ist das aber nicht vorgesehen: Der unabhängigen Forschung soll der Datenzugang weiterhin verwehrt bleiben. Ein Kommentar von Harald Oberhofer, Professor am WU Institut für Volkswirtschaft und Mitglied der Plattform Registerforschung.
Johannes Rauch hat sein letztes Amtsjahr begonnen. Nach der Nationalratswahl strebt er kein Ministeramt mehr an und wird sich freiwillig nach Vorarlberg zurückziehen. Viel hat er also nicht mehr zu verlieren. Und daher, so scheint es, möchte der Gesundheitsminister noch einige Reformen im österreichischen Gesundheitssystem anstoßen.
Die Finanzausgleichsverhandlungen sind hierfür nicht der schlechteste Hebel. Grundsätzlich folgt die Reform dem Prinzip „Geld gegen Daten“ – und eröffnet damit die Möglichkeit der Steuerung durch den Bund. Ein durchaus sinnvolles Prinzip: Die Länder und die Sozialversicherungsträger sind bereit, sich in einigen Punkten auf die Seite des Ministers zu schlagen, vor allem mit dem Ziel, den Einfluss der Ärztekammer im gesundheitspolitischen System zu beschneiden. Eine Koalition der Willigen – vorläufig und beschränkt.
Der Feind meines Feindes
Was von dieser Koalition geplant ist? Zum einen soll die Besetzung von Arztpraxen sowie die Schaffung von Gemeinschaftsordinationen und Ärztezentren vereinfacht und beschleunigt werden, zum anderen sieht der Entwurf eine Änderung bei der Verschreibung von Medikamenten vor: Zukünftig soll nicht mehr das Medikament, sondern der medizinische Wirkstoff verschrieben werden. Die Apotheken sollen das nach wirtschaftlichen Erwägungen günstigste Medikament, bei Standardwirkstoffen oftmals ein Generikum, an die Patient:innen abgeben. Die Anwendung von neuen und damit oftmals teuren Medikamenten soll bundeseinheitlich durch ein Bewertungsboard geregelt werden.
Auf den ersten Blick erscheinen einige der Vorschläge potenziell vernünftig; die Ärztekammer wehrt sich jedoch vehement und hat eine große Kampagne gestartet. Als Ultima Ratio droht sie mit der Kündigung des kassenärztlichen Gesamtvertrags. Wieder einmal.
Beschluss ohne großen Wurf
Wie die Verhandlungen weitergehen und welche konkreten Maßnahmen tatsächlich beschlossen werden, erfahren wir in den nächsten Wochen. Ein parlamentarisches Begutachtungsverfahren zur Thematik wird es nicht geben. Gesundheitsminister Rauch begründet dies damit, dass alle relevanten Akteure in die Verhandlungen eingebunden waren. Und so überrascht es doch, dass sich im Gesetzeskonvolut zum Finanzausgleich ein Vorschlag zur Schaffung einer „Plattform zur gemeinsamen Sekundärnutzung von Daten aus dem Gesundheitsbereich“ findet, von dem die wissenschaftliche Fachcommunity nur zufällig erfuhr.
Weniger überraschend sieht der vom Gesundheitsministerium eingebrachte Vorschlag keine Sekundärnutzung von Daten aus dem Gesundheitsbereich für die unabhängige wissenschaftliche Forschung vor. Die gemeinsame Nutzung beschränkt sich auf den Bund, die Länder und die Sozialversicherungsträger. Dadurch wird ein neues „Datensilo“ geschaffen – dadurch, dass nur wenige es nutzen können, geht einiges an Potenzial verloren.
Föderalisierung statt Zugang für Wissenschaft
Dabei wäre der Aufbau dieser Datenplattform grundsätzlich zu begrüßen, vor allem, wenn es um Gesundheitsdaten geht. Die Pandemie hat uns eindringlich vor Augen geführt, dass das Gesundheitssystem in seiner heutigen Ausgestaltung nicht evidenzbasiert gesteuert werden kann: Fehlende bzw. nicht verknüpfte Daten, unterschiedliche Erhebungsmethoden und Dokumentationsstandards sind Ausdruck der „Föderalisierung“ und der institutionellen Zersplitterung des österreichischen Gesundheitssystems. Die Folgen sind ein teures System und ein Blindflug – in Krisenzeiten, aber auch in der Zeit danach.
Eine aktuell brennende Frage betrifft etwa die Überlastung der Spitäler und die gewünschte „Umlenkung“ der Patient:innen zu einer digitalen und dann ambulanten medizinischen Betreuung, wo immer das möglich ist. Gesundheitsdaten aus dem stationären Bereich sind jedoch immer noch nicht mit denen aus dem ambulanten Bereich verbunden. Gesundheitsökonomische Forschung darüber, wie eine Entlastung der Spitäler gelingen könnte, ist alleine schon deshalb bisher nicht möglich.
Dass nun aber mit Bund, Ländern und Sozialversicherungsträgern ausschließlich diejenigen Akteure, die Reformen im Gesundheitssystem umzusetzen haben, auch für die datenbasierte Evaluierung zuständig sein sollen, lässt am tatsächlichen Reformwillen zweifeln. Warum sollten diejenigen, die für die Ausgestaltung des österreichischen Gesundheitssystems seit Anbeginn der Zweiten Republik verantwortlich sind, ein ernsthaftes Interesse haben, mögliche Schwachstellen zu identifizieren? Als verantwortliche Institutionen ihre eigenen Leistungen zu evaluieren, muss einen Interessenskonflikt auslösen. Das gilt vor allem für ein Land, in dem eine konstruktive Fehlerkultur gelinde gesagt wenig ausgeprägt ist.
Deshalb überrascht es auch nicht, dass sich dem Vernehmen nach vor allem die Sozialversicherungsträger gegen den Aufbau der (ohnehin rein internen) Datenplattform zur Wehr setzen: Jede Freundschaft hat ihre Grenzen.
Regierung verspielt Potenzial in der Registerforschung
Die türkis-grüne Koalition hat in dieser Legislaturperiode institutionelle Rahmenbedingungen für die wissenschaftliche Forschung mit Individualdaten geschaffen. Viele gesundheitsbezogene Daten fallen potenziell unter diese Datenkategorie. Mit dem Austrian Micro Data Center (AMDC) wurde ein sowohl datenschutzrechtlich als auch technisch sicherer Zugang zu sensiblen Daten für die Wissenschaft geschaffen.
Wie funktioniert das ganze? Die Daten des AMDC verbleiben auf sicheren Servern der Statistik Austria, Forscher:innen von akkreditierten wissenschaftlichen Einrichtungen wie etwa Universitäten können ausschließlich projektspezifisch auf einen kleinen Ausschnitt dieser Daten für statistische Analysen zugreifen. Aus den Forschungsergebnissen darf nicht auf einzelne Fälle geschlossen werden können. Die Statistik Austria führt eine Outputkontrolle der Forschungsergebnisse durch und stellt dies sicher.
Welche Daten im AMDC genützt werden können, regelt zum einen das Bundesstatistikgesetz und zum anderen das Forschungsorganisationsgesetz. Gesundheitsdaten können durch eine gemeinsame Verordnung des Gesundheitsministers oder der Sozialversicherungsträger mit dem Wissenschaftsminister für Forschungszwecke freigegeben werden. In die Koalition eingebracht worden war dieses von der wissenschaftliche Community schon lange geforderte und in anderen europäischen Ländern längst etablierte Datenzentrum für die Wissenschaft von den Grünen, der Partei von Johannes Rauch.
Umso erstaunlicher ist es, dass der Gesundheitsminister bis heute keine Verordnung zur Freigabe von Gesundheitsdaten für wissenschaftliche Zwecke vorgelegt hat. Im Gegenteil: Der bisherige Stand der Verhandlungen sieht vor, die Wissenschaft auch bei neuen Bestimmungen zur Nutzung von Gesundheitsdaten explizit auszuschließen.
Evidenzbefreite Politik
Die Sozialversicherungsträger selbst könnten von ihnen administrierte Gesundheitsdaten, wie etwa Verrechnungsdaten für medizinische Leistungen, für wissenschaftliche Forschung im AMDC per Verordnung freigeben. Sie setzen jedoch lieber andere Prioritäten – vor allem im Selbstmarketing. Immerhin hat der Dachverband der Sozialversicherungsträger im Herbst eine „Data Challenge“ veranstaltet: Teams von Wissenschaftler:innen „durften“ zu vom Dachverband vorgegebenen Fragestellungen maximal zwei Tage lang arbeiten. Danach wurden Sieger mit Preisen geehrt und die Veranstaltung öffentlich als großer Erfolg und wichtige Initiative vermarktet. Finanziert durch unsere Beiträge, aus wissenschaftlicher Perspektive wertlos. Eine Show ohne Nutzen.
Unter dem Strich sind die Vorhaben, den Finanzausgleich für ein Mehr an evidenzbasierter Gesundheitspolitik zu nützen, enttäuschend. Im wahrscheinlichsten Fall wird ein Akteur an Einfluss im System verlieren und die anderen Akteure entsprechend gewinnen. Dieser Punkt tangiert uns Beitragszahler:innen kaum.
Was uns jedoch betreffen wird: In ein paar Jahren wird die Wissenschaft keine verlässlichen Aussagen darüber treffen können, ob die Reformen bei den Arztpraxen und der Verschreibung von Wirkstoffen sowie die einheitliche Vorgangsweise bei teuren Medikamenten einen positiven Beitrag zur Gesundheit der österreichischen Bevölkerung geleistet hat. Die gesundheitspolitischen Hauptakteure könnten das vielleicht – sie werden aber keinen Anreiz haben, das forschungsbasiert wissen zu wollen.
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Dieser Kommentar ist ursprünglich auf materie.at erschienen.