Die ‚Monster‘ von Venedig: Warum Kreuzfahrtschiffe noch immer die Lagune befahren
Erst im Herbst 2019 flammte nach mehreren Vorfällen die Diskussion rund um die Einfahrt von Kreuzfahrtschiffen in Venedig erneut auf – erste Maßnahmen sollten folgen. Doch trotz herber Kritik von Politik, NGOs und Gesellschaft fahren die gigantischen Schiffsriesen immer noch in die Lagune ein. WU Professor Giuseppe Delmestri und seine KollegInnen Claudio Biscaro und Mia Raynard gingen in einer aktuellen Untersuchung den Hintergründen auf die Spur. Die Studie wurde als Best Accepted Paper in den Academy of Management Proceedings veröffentlicht.
Der starke Wellengang, den die großen Kreuzfahrtschiffe bei der Einfahrt in Venedig im Kanal von Giudecca verursachten, wurde in den vergangenen Jahren für die Lagunenstadt massiv zum Problem. Kollisionen mit anderen Schiffen, beschädigte Anlegestellen und auch Verletzte waren die Folge. Zudem argumentieren Umweltschutzorganisationen seit vielen Jahren, dass auch das ökologische Gleichgewicht der Lagune durch die umweltbelastenden Cruises in Gefahr seien. Obwohl auch PolitikerInnen– wie auch Venedigs Bürgermeister – in der Vergangenheit harte Maßnahmen forderten, fahren die Schiffe noch immer in die Lagune und werben mit dem einzigartigen Blick über den Markusplatz.
Tauschhandel zwischen Industrie und Politik
Giuseppe Delmestri und seine KollegInnen vom Institut für Change Management der WU untersuchten die dahinterliegenden Dynamiken und führten die Ursachen auf die sogenannte Social Exchange Theory zurück. Delmestri erklärt: „Unsere Analyse zeigt, dass es hier vor allem um eine Art sozialen Tauschhandel geht. In der öffentlichen Debatte werden verschiedenste Probleme, die durch Kreuzfahrtschiffe in Venedig verursacht werden, thematisiert. Die Reedereien zeigen sich daraufhin kooperativ und unterstützen die Stadt bei der Lösung einzelner Probleme. Das löst bei Politikerinnen und Politikern das Gefühl aus, in deren Schuld zu stehen. Daher unterstützen sie wiederum die Reedereien mit Zugeständnissen.“
Stewards für den Markusplatz bringen Unterstützung für die Industrie
Die Studie von Delmestri, Biscaro und Raynard bringt die Eckpunkte des „Tauschhandels“ zwischen Industrie und öffentlicher Verwaltung zum Vorschein: Die Kreuzfahrtindustrie erklärte sich freiwillig bereit, die durch Treibstoffe freigesetzten Schadstoffe in der Lagune einzudämmen, um Umweltbedenken abzufangen. Außerdem stellte einer der Kreuzfahrtanbieter „Stewards“ zur Verfügung, die die Touristenströme am Markusplatz koordinieren und damit insbesondere die Polizei vor Ort unterstützen und entlasten sollten. Denn diese war zuvor vielfach damit beschäftigt, zur Ordnung in Venedig zu mahnen. „Die lokalen Behörden begrüßten das Entgegenkommen der Kreuzfahrtanbieter - und der Bürgermeister wandte sich wohlwollend den Forderungen der Industrie zu“, erklärt Delmestri.
Kompromisslösung mit wenig Veränderung
Denn trotz intensiver Forderungen, die Kreuzfahrtschiffe aus der Lagune Venedigs hin zu einem Frachthafen außerhalb zu verbannen, brachte das Ergebnis der Diskussionen nur wenig Veränderungen. „Der Verkehr besonders großer Kreuzfahrtschiffe in der Lagune sollte um ein Drittel reduziert und teilweise auf andere Häfen außerhalb umgeleitet werden“, so Delmestri, „Durch ihr ‚Entgegenkommen‘ und ihre Unterstützungsangebote an die Regierung konnte die Kreuzfahrtindustrie verhindern, dass der Schiffsweg zur Piazza San Marco und durch das historische Zentrum Venedigs geschlossen wird.“ Trotz kleiner Einbußen bleibt der Hafen größtenteils für die Kreuzfahrtschiffe zugänglich.
„Nicht nur Venedig, auch andere Stätten des UNESCO Weltkulturerbes, aber auch unsere Natur sind durch derartige Dynamiken in Gefahr“, erklärt der Studienautor, „Unsere Analyse zeigt deutlich, wie einfach große Industrien politische Entscheidungen beeinflussen können, wenn Politikerinnen und Politiker nicht hundertprozentig klare Positionen vertreten. Bei ambivalenten politischen Statements und derartigen ‚Kompromissen‘ heißt es auch für die Bevölkerung, aufmerksam zu sein.“
Über Giuseppe Delmestri
Giuseppe Delmestri ist Professor am Department für Management an der Wirtschaftsuniversität Wien. Der gebürtige Italiener absolvierte das Studium der Betriebswirtschaft an der Bocconi Universität Mailand mit Schwerpunkten auf Organisation und Personalmanagement. Nach ersten Erfahrungen im Marketing setzte Delmestri seine wissenschaftliche Tätigkeit zwischen 1992 bis 2004 als Assistent am Institut für Organisation der Universität Bocconi fort. Anschließend wechselte er an die Universität Bergamo, wo er bis 2011 als Assoziierter Professor für Organisation und Personalwesen tätig war und die dortige Executive Academy gründete und leitete. 2011 übernahm er die Professur für Organisation und Global Business an der JKU Linz. Im Jahr 2014 folgte Giuseppe Delmestri dem Ruf an die WU und ist seither Vorstand des Instituts für Change Management und Management Development sowie Mitglied des WU Competence Center for Sustainability Transformation and Responsibility (STaR) . In seiner Forschung widmet er sich schwerpunktmäßig dem Wandeln in und von Organisationen, der strategischen Positionierung von Organisationen und Marktkategorien, Branding und organisationaler Identität sowie den Beziehungen zwischen sozialen Bewegungen und Organisationen (z.B. Veganismus, Klimagerechtigkeit, Mobilität). Auch das Thema Ethik in Wirtschaft und Wissenschaft ist Teil seines Interessensgebietes. Für seine Forschung wurde er unter anderem mit dem Award for Research Excellence der Universität Bocconi sowie 2018 mit dem Outstanding Author Contribution Emerald Literati Award for Excellence ausgezeichnet.
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