Inkonsistente Überzeugungen: Den Widersprüchen auf der Spur
Unsere Überzeugungen sind oft widersprüchlicher, als wir denken. Warum das so ist, wird in einem neuem Spezialforschungsbereich unter Mitwirkung von WU Forscher*innen untersucht.
Wir Menschen halten unsere eigenen Überzeugungen für kohärent, logisch und einheitlich. Doch unser Gehirn spielt uns hier einen Streich: Aus der psychologischen Forschung wissen wir, dass Menschen mit Widersprüchen in ihren Ansichten leben – und sich zum Teil selbst dann weigern, ihre Meinung zu ändern, wenn klare Beweise für diese Widersprüchlichkeit vorliegen. Der eine hält sich etwa für besonders tierlieb, aber besteht trotzdem darauf, jeden Tag Fleisch zu essen. Die andere legt besonderen Wert auf Toleranz – und wird bei bestimmten Themen plötzlich sehr intolerant. Hand aufs Herz: Fast jeder und jede von uns hat ein paar solcher widersprüchlicher Überzeugungen.
Könnte es sein, dass diese Widersprüche nicht einfach „Fehler“ sind, sondern grundlegende Mechanismen unseres Denkens widerspiegeln? Genau das will eine neue Forschungsgruppe im Rahmen eines Spezialforschungsbereichs (SFB) herausfinden. Ein interdisziplinäres Team aus Psychologie, Kognitionswissenschaft, Linguistik und Wirtschaftswissenschaften untersucht das Zusammenspiel zwischen Kernüberzeugungen, die tief in der Identität verwurzelt sind, und evidenzbasierten Überzeugungen, die durch Erfahrung und Vernunft geformt werden.
Susann Fiedler ist Verhaltenswissenschaftlerin und leitet das WU Institute for Cognition and Behavior. Ihre Arbeiten zu den kognitiven und affektiven Grundlagen von Bewertungs- und Handlungsprozessen wurden u.a. mit der Otto-Hahn-Medaille der Max-Planck-Gesellschaft ausgezeichnet. (Bild: Tristan Vostry)
Überzeugungen prägen unsere Identität
Daran beteiligt ist auch Susann Fiedler, Leiterin des WU Institute for Cognition and Behavior. „Überzeugungen sind nicht allein das Ergebnis von Informationen oder logischen Schlussfolgerungen – sie sind tief in unseren Emotionen und unserer Identität verwurzelt“, erklärt sie die zentrale Hypothese des Forschungsprojekts.
Manche Überzeugungen, sogenannte Kernüberzeugungen, definieren, wer wir sind und was wir für wichtig halten. Diese emotional aufgeladenen Überzeugungen sind besonders widerstandsfähig gegen neue Informationen. Abgeleitete Überzeugungen hingegen – etwa Meinungen, die auf Argumenten oder Schlussfolgerungen beruhen – sind flexibler. Aber auch sie werden von den Kernüberzeugungen beeinflusst. „Unsere Forschung will systematisch untersuchen, wie diese beiden Ebenen zusammenarbeiten – und warum sie manchmal kollidieren“, sagt Susann Fiedler.
Das Projektteam (v. l.): Agnes Melinda Kovács, Ádam Szeidl, Susann Fiedler, Natalie Sebanz, Eva Wittenberg und Mats Köster.
Ein exzellentes Forschungsnetzwerk
Die Forscher*innen versuchen, ein umfassendes Modell zu entwickeln, das erklärt, wie Überzeugungssysteme entstehen, organisiert sind und sich verändern. Zentrale Fragen sind etwa, wie Kinder ihre ersten Kernüberzeugungen entwickeln, oder auch, wie Sprache und soziale Interaktionen unsere Überzeugungen beeinflussen. Und schließlich sollen auch die politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen von widersprüchlichen Überzeugungen beleuchtet werden.
Damit ist dieses Projekt einer von drei neuen Spezialforschungsbereichen, die vom österreichischen Wissenschaftsfonds FWF gefördert werden und darauf abzielen, exzellente Forschungsnetzwerke hervorzubringen. Der Spezialforschungsbereich „Warum tolerieren kohärente Glaubenssysteme Widersprüche?“ startet 2025 und ist an der Central European University (CEU) und der WU angesiedelt. Die Koordination übernimmt die Kognitionswissenschaftlerin Agnes Melinda Kovács von der CEU.
„Unser Ziel ist nicht nur, die Mechanismen hinter Überzeugungen besser zu verstehen, sondern auch praktische Lösungen zu entwickeln“, sagt Susann Fiedler. „Mit der Zeit wollen wir Interventionen testen, die Fehlinformationen entgegenwirken, Polarisierung abbauen und den gesellschaftlichen Dialog fördern.“