Recht

Das Verfassungsgericht – eine unfehlbare Instanz?

01. Juni 2022

Pan­de­mie­be­kämp­fungs­maß­nah­men, Kopf­tuch­ver­bo­te für Volks­schü­ler*innen und das Ster­be­hil­fe­ver­bot zeu­gen davon, dass Ver­fas­sungs­ge­rich­te mit bri­san­ten ge­sell­schaft­li­chen Kon­flik­ten be­fasst sind. Laura Pav­li­dis, For­sche­rin am WU In­sti­tut für Ös­ter­rei­chi­sches und Eu­ro­päi­sches Öf­fent­li­ches Recht, un­ter­sucht die Le­gi­ti­ma­ti­on ver­fas­sungs­ge­richt­li­cher Deu­tungs­macht.

Ver­fas­sungs­ge­rich­te be­ur­tei­len Sach­ver­hal­te und Rechts­vor­schrif­ten an­hand der Ver­fas­sung, deren Ga­ran­tie ihnen auf­ge­ge­ben ist. Bei der Deu­tung der Ver­fas­sung, ge­nie­ßen sie Spiel­räu­me. Ins­be­son­de­re bei der ver­fas­sungs­recht­li­chen Prü­fung von Ge­set­zen kön­nen Ver­fas­sungs­ge­rich­te in den Mit­tel­punkt po­li­ti­scher und macht­po­li­ti­scher Kon­tro­ver­sen ge­ra­ten.

Jeder Rechts­weg muss ein­mal enden – in Ver­fas­sungs­fra­gen ty­pi­scher­wei­se beim Ver­fas­sungs­ge­richt. Das macht Ver­fas­sungs­ge­rich­te aber nicht per se voll­kom­men. Die End­gül­tig­keit ihrer Ent­schei­dun­gen be­deu­tet nicht, dass sie un­fehl­bar sind. Umso bren­nen­der ist die Frage nach der Le­gi­ti­ma­ti­on ver­fas­sungs­ge­richt­li­cher Macht­voll­kom­men­heit – wie ak­tu­ell der Dis­put um eine mög­li­che Ju­di­ka­tur­än­de­rung des US Su­pre­me Court zum Ab­trei­bungs­recht ver­an­schau­licht.

Die Ver­fas­sungs­ge­richts­for­schung dis­ku­tiert die Macht der Ver­fas­sungs­ge­rich­te als von über­le­ge­nem Wis­sen her­rüh­ren­de Au­to­ri­tät. Diese Zu­schrei­bung geht von ver­fas­sungs­recht­li­chen Qua­li­fi­ka­ti­ons­an­for­de­run­gen aus, die von Kan­di­dat*innen für das Amt zu er­fül­len sind. Sol­che kennt auch die ös­ter­rei­chi­sche Ver­fas­sung. Wie jede Form staat­li­cher Macht be­darf ver­fas­sungs­ge­richt­li­che Au­to­ri­tät einer funk­ti­ons­ge­rech­ten Recht­fer­ti­gung.

Die Recht­fer­ti­gung von Au­to­ri­tät

Was genau gilt es nun ge­gen­über wem zu recht­fer­ti­gen? Zum Zwe­cke ihrer Recht­fer­ti­gung macht es Sinn, die Ver­fas­sungs­ge­richts­bar­keit auf­ge­fä­chert in Er­schei­nungs­for­men, For­ma­ten, Akten und Ele­men­ten zu den­ken. So lässt sich klas­sisch nach der Recht­fer­ti­gung etwa der In­sti­tu­ti­on oder einer Ent­schei­dung fra­gen – aber auch etwas un­ge­wohn­ter im Ent­schei­dungs­stil, der Dis­kus­si­ons­kul­tur oder Öf­fent­lich­keits­ar­beit nach Recht­fer­ti­gungs­po­ten­ti­al su­chen. Au­ßer­dem kom­men di­ver­se Recht­fer­ti­gungs­sub­jek­te in Be­tracht – etwa die Par­tei­en des ver­fas­sungs­ge­richt­li­chen Ver­fah­rens, die Öf­fent­lich­keit oder die Re­gie­rung.

Be­stim­men­de In­hal­te des Recht­fer­ti­gungs­kon­zepts sind die Aus­ge­stal­tung des Be­set­zungs­mo­dus und die Un­ab­hän­gig­keit der Mit­glie­der. Das reicht je­doch noch nicht. Be­ruht ver­fas­sungs­ge­richt­li­che Au­to­ri­tät auch auf über­le­ge­nem Wis­sen, soll­te sie sich ge­ra­de durch diese Über­le­gen­heit ab­bau­en­de Wis­sens­ver­mitt­lung zu­sätz­lich le­gi­ti­mie­ren, so die zen­tra­le These von Laura Pav­li­dis. Damit rü­cken die Be­grün­dun­gen ver­fas­sungs­ge­richt­li­cher Ent­schei­dun­gen ins Zen­trum, durch die das Ver­fas­sungs­ge­richt zu Recht­fer­ti­gungs­sub­jek­ti­ven spricht. Das ver­stän­di­gungs­ori­en­tier­te Geben von Grün­den muss Ma­xi­me sein, und nicht das blan­ke au­to­ri­ta­ti­ve Ent­schei­den das Credo der Ver­fas­sungs­ge­richts­bar­keit. Es mag pa­ra­dox an­mu­ten, ist aber viel­leicht die Crux recht­fer­tig­ba­rer Macht: Sie baut sich immer ein Stück weit selbst ab und da­durch zu­gleich auf.

Le­gi­ti­ma­ti­ons­po­ten­ti­al

Nach die­sem Recht­fer­ti­gungs­kon­zept wir­ken ein dis­kur­si­ver Ent­schei­dungs­stil, die Sicht­bar­ma­chung von Ent­schei­dungs­spiel­räu­men und eine of­fe­ne Dis­kus­si­ons­kul­tur in­ner­halb der In­sti­tu­ti­on le­gi­ti­ma­ti­ons­för­dernd. Ein di­ver­si­fi­zie­ren­des Re­crui­ting ver­fas­sungs­recht­li­cher Mit­ar­bei­ter*innen, die unter an­de­rem als Dia­log­part­ner*innen der Mit­glie­der des Ver­fas­sungs­ge­richts fun­gie­ren, kann zu kri­ti­schen Dis­kur­sen bei­tra­gen. Qualitäts-​ und Wis­sens­ma­nage­ment sowie Öf­fent­lich­keits­ar­beit kön­nen durch ver­ständ­li­che Auf­be­rei­tung wich­ti­ger ver­fas­sungs­ge­richt­li­cher The­men für Me­di­en und Öf­fent­lich­keit ver­fas­sungs­recht­li­ches Wis­sen ver­mit­teln.

So ist der vom ös­ter­rei­chi­schen Ver­fas­sungs­ge­richts­hof in­iti­ier­te Aus­tausch mit Schu­len über das Pro­jekt „Ver­fas­sung macht Schu­le“ ge­nau­so als le­gi­ti­ma­ti­ons­för­dernd her­vor­zu­he­ben wie die Wan­der­aus­stel­lung „Ver­fas­sungs­ge­richts­hof auf Tour“ an­läss­lich des 100-​jährigen Ju­bi­lä­ums der ös­ter­rei­chi­schen Bun­des­ver­fas­sung. All diese Le­gi­ti­ma­ti­ons­po­ten­tia­le kann ein Ver­fas­sungs­ge­richt selbst ent­fal­ten; Ge­set­zes­än­de­run­gen braucht es dafür nicht.

Ein Ver­fas­sungs­ge­richt, das die Ge­sell­schaft so an sei­nem Wis­sen teil­ha­ben lässt und durch die Qua­li­tät sei­ner Ent­schei­dun­gen zu über­zeu­gen sucht, dient den Men­schen am bes­ten.

Über Laura Pav­li­dis

Laura Pav­li­dis forscht und lehrt seit 2020 als Post­Doc am In­sti­tut für Ös­ter­rei­chi­sches und Eu­ro­päi­sches Öf­fent­li­ches Recht der Wirt­schafts­uni­ver­si­tät Wien. Ihre For­schung fo­kus­siert auf Verfassungs-​ und Ver­wal­tungs­recht, Grund­rech­te, Ver­fas­sungs­ge­rich­te, verfassungs-​ und ver­wal­tungs­ge­richt­li­ches Ver­fah­ren, Namens-​ und Per­so­nen­stands­recht, Uni­ons­bür­ger­schaft, Mi­gra­ti­ons­recht und Hoch­schul­recht.

Sie stu­dier­te Rechts­wis­sen­schaf­ten an der Uni­ver­si­tät Graz und der Uni­ver­si­tät Wien. Nach vier Jah­ren als Uni­ver­si­täts­as­sis­ten­tin am In­sti­tut für Staats-​ und Ver­wal­tungs­recht der Uni­ver­si­tät Wien war sie als ver­fas­sungs­recht­li­che Mit­ar­bei­te­rin am Ver­fas­sungs­ge­richts­hof im Re­fe­rat von Mi­cha­el Ho­lou­bek tätig.

Re­se­ar­cher of the Month

Mit dem „Re­se­ar­cher of the Month“ stellt die WU her­aus­ra­gen­de Ar­bei­ten von For­scher*innen vor, die mit ihrer For­schung maß­geb­lich zur Lö­sung wirt­schaft­li­cher, ge­sell­schaft­li­cher und recht­li­cher Fra­gen bei­tra­gen. Das mo­nat­li­che Video „Re­se­ar­cher of the Month“ prä­sen­tiert die Ar­beit der For­scher*innen und ge­währt einen Blick hin­ter die Ku­lis­sen der viel­fäl­ti­gen WU-​Forschung.

Wei­ter­füh­ren­de In­for­ma­tio­nen

Laura Pav­li­dis und ihre For­schung im Film

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