Studie: Menschen fühlen sich zunehmend als „EuropäerInnen“
Auch wenn die EU aufgrund zahlreicher Krisen vielerorts bereits abgeschrieben wird, nimmt der Anteil derer, die sich mit dem Gemeinschaftsprojekt identifizieren, doch stetig zu. Zu diesem Schluss kommt eine aktuelle Studie von WissenschaftlerInnen des Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital (WU, IIASA, VID/ÖAW) und bestätigt damit zugleich die Vorhersagen einer früheren Studie aus dem Jahr 2006.
Laut der neuen Studie, die heute in der demographischen Fachzeitschrift Population and Development Review erscheint, sehen sich 61 Prozent der BürgerInnen innerhalb der EU-15 nicht bloß als Angehörige ihrer jeweiligen Nationalität, sondern auch als EuropäerInnen. Zwischen 1996 und 2004 belief sich dieser Wert auf lediglich 58 Prozent. Die größten Zuwächse verzeichnete die Statistik in Deutschland, Österreich, Schweden und Finnland, aber überraschenderweise auch in Griechenland. Die stärksten Negativtrends waren im selben Zeitraum in Frankreich und vor allem Großbritannien zu beobachten, wo sich auch im internationalen Vergleich mit 38 Prozent der niedrigste Wert abzeichnete.
Die vorliegende Studie stellt zugleich eine Neubewertung einer früheren, 2006 in Science publizierten Studie dar. Unter der Leitung von WU-Professor Wolfgang Lutz, Gründungsdirektor des Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital (IIASA, VID/ÖAW, WU) und Leiter der Abteilung Demographie am Institut für Sozialpolitik, konnte damals klar aufgezeigt werden, dass der Anteil an Menschen mit multiplen Identitäten, die sich also sowohl als EuropäerInnen, als auch als Angehörige ihrer Nation sahen, in den jüngeren Kohorten wesentlich höher war. Unter Verwendung eines Prognosemodells mit dem Namen „Demographischer Metabolismus“, welches den sozialen Wandlungsprozess beschreibt, der durch das Nachrücken junger Kohorten in der Bevölkerungspyramide ausgelöst wird, sagten die ForscherInnen damals voraus, dass der Anteil der Bevölkerung mit europäischer Identität zunehmend größer werden würde. Für die jüngsten Kohorten, für die damals noch keine Daten zur Verfügung standen, wurde die Fortsetzung eines linearen Trends angenommen. Durch die nunmehr mögliche empirische Überprüfung hat sich herausgestellt, dass die erste Vorhersage tatsächlich eingetroffen ist, die zweite jedoch nicht.
Erworbene Identitäten bleiben
„Es wird wahrscheinlich viele Menschen überraschen, dass die EuropäerInnen sich heute – trotz der vielen unbewältigten Krisen der vergangenen Jahre – stärker mit Europa identifizieren als sie das früher getan haben“, so Studienleiter Erich Striessnig „aber man darf eben nicht vergessen, dass einmal erworbene Identitäten sehr stabil sind und der demographische Metabolismus unaufhaltsam voranschreitet.“ „Diese Studie ist auch dadurch bedeutend, dass sie den ersten echten empirischen Test dieser neuen demographischen Methode der Voraussage der sich verändernden Mehrheitsverhältnisse in der Bevölkerung und dadurch auch des sozialen Wandels im Allgemeinen darstellt“ ergänzt Ko-Autor Wolfgang Lutz.
Die Daten, auf die sich beide Studien beziehen, stammen aus den Eurobarometer Umfragen, in denen es um die Wahrnehmung der EU in der Bevölkerung sowie um die Bereitschaft deren Ziele zu unterstützen geht. Bereits seit 1996 wird dort in unverändertem Wortlaut danach gefragt, ob die Menschen sich lediglich als Angehörige ihrer jeweiligen Nation sehen, oder eben auch als EuropäerInnen. Dies ist vor allem deshalb wichtig, weil davon die Stabilität und Legitimität eines jeden politischen Systems abhängt. „Wenn der Bevölkerungsanteil mit europäischer Identität zunimmt, hat das natürlich auch positive Folgewirkungen in Bezug auf die europäische Integration. Das muss aber nicht notwendigerweise bedeuten, dass diese Integration in der aktuellen Form der Europäischen Union weiter geht“, so Wolfgang Lutz.
Wichtig sei vor allem auch, dass eine Trendwende eingeleitet wird, so Striessnig: „Wenn immer mehr politische KommentatorInnen davon ausgehen, dass die EU dem Untergang geweiht ist und insbesondere junge Menschen solche Überzeugungen aufgreifen, dann könnte daraus eine sich selbst erfüllende Erwartung werden.“
Neues Modell: Mehr Aussagekraft, weniger Fehleranfälligkeit
Auf die Verallgemeinerbarkeit der verwendeten Prognosemethodologie angesprochen, fügt WU-Professor Wolfgang Lutz hinzu: „Unsere neuen Resultate bestätigen, dass kohortenspezifische Vorhersagen im Sinne des demographischen Metabolismus wesentlich robuster und aussagekräftiger sind als das konventionelle Extrapolieren von Trends, wie wir es seinerzeit auf die jüngeren Kohorten angewandt haben. Durch seine geringere Fehleranfälligkeit eignet sich das Modell des demographischen Metabolismus hervorragend als Prognoseinstrument für Einstellungen, Werthaltungen und Identitäten die eine gewisse Stabilität im Laufe eines Menschenlebens aufweisen.“
Literaturhinweise:
Lutz, W. (2013): Demographic metabolism: A predictive theory of socioeconomic change.Population and Development Review. pp. 283-301.
Lutz, W., Kritzinger, S. and Skirbekk, V. (2006): The demography of growing European identity.Science, 314 (5798). p. 425.
Rückfragehinweis:
Anna Maria Schwendinger, Bakk.
Presse-Referentin
Tel: + 43-1-31336-5478
E-Mail: anna.schwendinger@wu.ac.at