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Neue Studie: Humankapital von Geflüchteten

23. September 2016

Wer sind die Menschen, die vor einem Jahr nach Österreich geflüchtet sind? ForscherInnen des Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital haben in einer wissenschaftlichen Studie die Qualifikationen, Einstellungen und Werte von Geflüchteten erhoben, die im Sommer und Herbst 2015 ins Land gekommen sind. Die Ergebnisse wurden nun in der internationalen Fachzeitschrift PLOS ONE publiziert und zeigen: Insbesondere die befragten Geflüchteten aus Syrien und dem Irak sind gut gebildet, nur wenig traditionell eingestellt und stammen zumeist aus der Mittelschicht.

Für eine Integration der nach Österreich geflüchteten Menschen ist es wichtig, mehr über ihre Ausbildung und ihre beruflichen Qualifikationen sowie über ihre gegenwärtigen Sichtweisen als auch Hoffnungen für die Zukunft zu erfahren. Eine nun in der international begutachteten Fachzeitschrift PLOS ONE publizierte Studie von Wissenschaftler/innen des Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital, einer Forschungskooperation zwischen der WU, der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) sowie dem International Institute for Applied Systems Analysis (IIASA), hat diese Merkmale erstmals im deutschsprachigen Raum untersucht. Rund 500 Menschen in österreichischen Flüchtlingseinrichtungen wurden hierfür befragt.

Gut gebildet

„Die Erhebungen zeigen, dass insbesondere die Befragten aus den Bürgerkriegsländern Syrien und Irak verglichen mit der Bevölkerung im jeweiligen Heimatland gut gebildet sind, wenig traditionelle Werteinstellungen vertreten und überwiegend aus Familien der Mittelschicht stammen“, fassen die Erstautorinnen der Studie Isabella Buber-Ennser und Judith Kohlenberger die Ergebnisse zusammen. Fast die Hälfte der Befragten aus Syrien und dem Irak hat eine Sekundarbildung erhalten, jeweils mehr als ein Viertel gibt an, mindestens einen post-sekundären Abschluss, also Matura oder einen höheren Bildungsgrad, zu besitzen. Dies entspreche etwa dem Anteil von Menschen mit post-sekundärer Ausbildung in Österreich, so das Forschungsteam. „Die weit verbreitete öffentliche Annahme, Asylsuchende und Geflüchtete seien ungebildet oder gar AnalphabetInnen konnte in unseren Befragungen nicht bestätigt werden“, erläutert die Demographin Buber-Ennser von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

Traditionelle Werte spielen geringe Rolle

Das hohe Bildungsniveau spiegelt sich laut den WissenschaftlerInnen auch in den Werten und Einstellungen der von ihnen befragten Personen wider, die sich insgesamt als weniger traditionell orientiert begreifen. Verglichen mit den aktuellen Daten des „World Values Survey“, der Einstellungen in arabischen Ländern, etwa zu Religion oder Geschlechtergerechtigkeit erhoben hat, zeigten sich die Geflüchteten in Österreich als durchgehend liberaler eingestellt als die Bevölkerung in ihren Heimatländern. Knapp ein Viertel der Personen gab sogar an, nicht religiös zu sein und eine deutliche Mehrheit aller befragten Frauen sowie Männer stimmte der westlichen Werten entsprechenden Aussage zu, dass „einen Job zu haben für Frauen die beste Art ist, eine unabhängige Person zu sein“. Menschen aus der Mittelschicht „Die befragten Menschen, die Ende vergangenen Jahres nach Österreich gekommen sind, sind Menschen der Mittelschicht“, erklärt die WU-Forscherin Judith Kohlenberger. Das zeige sich anhand sozioökonomischer Faktoren, die ebenfalls in der Studie erhoben wurden. So lebten vier Fünftel der Befragten vor ihrer Flucht im eigenen Haus oder dem der Familie. Die meisten gaben zudem an, dass sie für ihre Flucht Kosten von über 2.000 US-Dollar aufbringen mussten – was einem Vielfachen des durchschnittlichen Jahreseinkommens in den jeweiligen Herkunftsländern entspricht. Auch der Umstand, dass sich die überwiegende Mehrheit als gesund und arbeitsfähig einschätzt, lasse darauf schließen, so die Autor/innen der Studie, dass die Geflüchteten aus besser situierten Schichten stammen.

Großes Integrationspotenzial

Die ForscherInnen erhoffen sich, mit den Ergebnissen ihrer Studie zu einer verbesserten wissenschaftlichen Faktenlage in der gesellschaftlichen Debatte um die Integration von Geflüchteten beizutragen. Denn die Studie deute darauf hin, so der Demograph und Wittgensteinpreisträger Wolfgang Lutz, der auch Gründungsdirektor des Wittgenstein Centre ist, dass „das Integrationspotenzial von Menschen, die Ende vergangenen Jahres als Flüchtlinge nach Österreich gekommen sind, bemerkenswert ist: eine hohe Bildung, eher liberale Einstellungen und die Zugehörigkeit zu den Mittelschichten ihrer Herkunftsländer sind gute Voraussetzungen für eine gelingende Integration in unsere Gesellschaft.“

Über die Studie

Für ihre Untersuchung hat das Forschungsteam im November und Dezember 2015 Interviews mit 514 Geflüchteten beider Geschlechter und unterschiedlicher Altersgruppen überwiegend aus Syrien, dem Irak und Afghanistan zu ihrer Herkunft, Ausbildung und ihren beruflichen Erfahrungen, ihrem Familienstatus, ihren Einstellungen und Werten sowie ihren Zukunftsplänen in sieben Flüchtlingseinrichtungen in und um Wien durchgeführt. Befragt wurden die Geflüchteten nicht nur zu sich selbst, sondern auch zu ihrer engsten Familie, sodass die Erhebung Rückschlüsse auf insgesamt knapp 1.400 Personen erlaubt. Einer der Ko-Autoren ist der syrische Demograph Zakarya Al Zalak (IIASA), vormals Direktor am „Statistical Technical Institute“ in Damaskus.

Publikation: Human Capital, Values, and Attitudes of Persons Seeking Refuge in Austria in 2015. Isabella Buber-Ennser, Judith Kohlenberger, Bernhard Rengs, Zakarya Al Zalak, Anne Goujon, Erich Striessnig, Michaela Potančoková, Richard Gisser, Maria Rita Testa, Wolfgang Lutz. PLOS ONE, September 2016 http://dx.plos.org/10.1371/journal.pone.0163481

Pressekontakt:
Anna Maria Schwendinger
Presse-Referentin
T +43 1 31336-5478
anna.schwendinger@wu.ac.at

Wissenschaftliche Kontakte:
Judith Kohlenberger
Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital
(WU, ÖAW, IIASA),
Wirtschaftsuniversität Wien
T +43 1 31336-4847
judith.kohlenberger@wu.ac.at

 
Isabella Buber-Ennser
Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital (WU, ÖAW, IIASA),
Vienna Institute of Demography der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
T +43 1 313 36-7726
isabella.buber@oeaw.ac.at

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