Gender Data Gap: Warum Frauen immer noch benachteiligt werden
Was der Gender Pay Gap für den Arbeitsmarkt, ist der Gender Data Gap für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung: Die meisten Daten, die für sozio-organisatorische Entscheidungen herangezogen werden, basieren auf männlichen Körpern, männlichen Vorlieben und prototypischen männlichen Lebensentscheidungen. WU-Forscherin Sonja Sperber (Institut für Strategie, Technologie und Organisation) zeigt mit ihren Kolleginnen in ihrer aktuellen Studie, welche negativen Auswirkungen der Gender Data Gap hat und wie er überwunden werden kann.
Daten bestimmen mehr denn je jeden Aspekt unseres Lebens, von der Medizin und dem Verkehr bis hin zur Wirtschaft und dem Krisenmanagement angesichts der Pandemie. Die meisten der von uns erhobenen Daten stammen von (weißen) Männern. Die fehlenden Daten über Frauen bezeichnet man als Gender Data Gap. Demnach sind die meisten Daten, auf denen organisatorische, politische oder medizinische Entscheidungen basieren, zugunsten von Männern verzerrt. Selbst Entscheidungen zu Themen, die in erster Linie Frauen betreffen, wie die reproduktive Gesundheit, werden oft ohne Berücksichtigung relevanter Daten über Frauen getroffen.
Vier Beispiele zum Gender Data Gap
Jüngst hat eine Studie an 1,3 Millionen Patient*innen in Kanada gezeigt, dass Frauen, die von einem männlichen Chirurgen operiert werden, ein um 15 Prozent höheres Risiko haben einen schlechten Ausgang zu erleiden, und ein um 32 Prozent höheres Risiko haben zu sterben, Komplikationen zu erleiden und erneut ins Krankenhaus eingewiesen zu werden, als wenn eine Frau die Operation durchführt. Dahingegen erzielten weibliche Chirurginnen bei ihren Patient*innen keine unterschiedlichen Ergebnisse. Der Gender Data Gap erklärt dieses Ergebnis: Medizinische Lehrbücher greifen überwiegend auf Illustrationen von weißen, männlichen Körpern zurück, medizinische Produkte haben oft mehr negative Nebenwirkungen für Frauen, Medikamente sowie deren Dosierung werden überwiegend anhand von Studien mit männlichen Probanden getestet und männliche Wissenschaftler beziehen seltener geschlechtsspezifische Analysen in ihre Forschung ein.
Schwerwiegende Folgen der COVID19-Pandemie betreffen Frauen stärker als Männer. Das liegt zum Teil auch daran, dass das Ausmaß der – nach wie vor vorrangig von Frauen übernommenen – Betreuungsaufgaben unterschätzt wird; die Komplexität der Betreuungsaufgaben hat durch die Pandemie (z.B. durch Home Schooling) deutlich zugenommen. Die vorhandenen Regularien zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind demnach nicht auf die wirklichen Bedürfnisse der Familien, und besonders der neben der Übernahme von Betreuungsaufgaben berufstätigen Frauen, ausgerichtet.
Unternehmen engagieren sich mehr denn je für Vielfalt und Gleichstellung in der Belegschaft. Die entwickelten Strategien basieren aber häufig ausschließlich auf männlichen Daten oder auf Daten, die zwar Frauen einschließen, aber zugunsten von Männern verzerrt sind. So werden beispielsweise Thermostate in Büros in der Regel auf Temperaturen eingestellt, die die kognitive Leistung von Männern aber nicht von Frauen fördern; dies liegt daran, dass bei der Ermittlung der optimalen Raumtemperatur ausschließlich Männer in Studien involviert waren. Darüber hinaus fehlt in Unternehmen oft – basierend auf der Datenlücke zu Frauen – das grundlegende Bewusstsein über Faktoren des weiblichen Körpers und wie diese die Arbeitsweise sowie die Leistungserbringung beeinflussen.
In der Zukunft wird die stetig voranschreitende Entwicklung der Künstlichen Intelligenz die Vorzugsbehandlung von Männern und Diskriminierung von Frauen höchstwahrscheinlich weiterhin reproduzieren und verfestigen. Die Entwickler von Guild Technology Inc. beispielsweise, einer Online-Plattform zur Bewertung von Bewerber*innen für technische Berufe, zogen Webdaten heran, um Indikatoren für die Zeit zu finden, die die Bewerber*innen mit dem Austausch und der Entwicklung von Code verbrachten. Diese Web-Scraping-Algorithmen berücksichtigen jedoch keine Faktoren, die für Frauen in der Programmierbranche spezifisch sind. So verwenden Frauen auf Open-Source-Plattformen häufig männliche Pseudonyme, um Belästigungen zu vermeiden. Da das KI-System die Verwendung männlicher Pseudonyme durch Frauen nicht berücksichtigt, unterschätzt es automatisch die Qualifikationen der weiblichen Bewerberinnen.
Was tun gegen den Gender Data Gap?
Der Gender Data Gap muss u.a. in der Managementwissenschaft anerkannt und verstanden werden, bevor wirksame Maßnahmen auf gesellschaftlicher und organisatorischer Ebene ergriffen werden können. Aus organisatorischer Sicht ist es von immenser Bedeutung, mit der Erhebung und Interpretation der fehlenden Daten zu beginnen, da dies letztlich erhebliche Auswirkungen auf die bestehenden Routinen und Praktiken haben wird, die jahrzehntelang auf den einzigen verfügbaren – männlichen – Daten basierten.
Die Auseinandersetzung mit dem Gender Data Gap ist ein notwendiger Schritt, der dazu beitragen kann, wertvolle Erkenntnisse über damit zusammenhängende Datenlücken zu gewinnen, während die Datenlücken zu anderen unterrepräsentierten Gruppen am Arbeitsplatz sowie intersektionelle Aspekte ebenfalls auf der Tagesordnung von Managementwissenschaftlern, politischen Entscheidungsträgern und Organisationsleitungen stehen sollten.
Das dem Gender Data Gap zugrundeliegende Problem ist allerdings viel grundlegender und weitreichender als „nur“ fehlende Daten zum Geschlecht. Organisationen und Institutionen müssen auch auf der Grundlage der neu gewonnenen Daten handeln, um mehr Gleichberechtigung für Frauen zu erreichen und damit auch mehr Gleichberechtigung für alle, die nicht in den Genuss von intersektionellen Privilegien kommen. Wenn Wissen nicht zum Handeln führt, können die Erkenntnisse über den Gender Data Gap unwirksam verpuffen.
Zur Studie
Sonja Sperber, Susanne Täuber, Corinne Post, Cordula Barzantny: Gender Data Gap and its impact on management science — Reflections from a European perspective. European Management Journal. Online abrufbar unter https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0263237322001554
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