Die vertagte Apokalypse: Warum Weltuntergangs-Rhetorik nicht mehr greift
Seit Jahrzehnten fordern Wissenschaft und zivilgesellschaftliche Bewegungen eine sozial-ökologische Transformation. Doch ein echter Strukturwandel ist nicht in Sicht. Ingolfur Blühdorn, Professor für soziale Nachhaltigkeit an der WU Wirtschaftsuniversität Wien, hat dazu ein neues Buch vorgelegt – und zeigt, dass Warnungen vor dem Weltuntergang nicht die erhoffte Wende bringen werden.
„Ende oder Wende!“, „Weiter-So ist keine Option“, „Wir stehen am Abgrund“: Seit Jahrzehnten haben diese Formeln die umweltpolitische Debatte geprägt. Seit Anfang der 1970er Jahre kämpfen zivilgesellschaftliche Bewegungen für den Aufbruch in eine andere Gesellschaft: ökologischer, demokratischer, gerechter, inklusiver. „Aber die ‚Fünf vor zwölf!‘-Rhetorik ist alt und stumpf geworden“, sagt Ingolfur Blühdorn, Leiter des WU Instituts für Gesellschaftswandel und Nachhaltigkeit (IGN), „weil sie die Realität spätmoderner Gesellschaften verfehlt.“
Dieses Denken verdunkele mehr, als es erhellt, erklärt er in seinem neuen Buch „Unhaltbarkeit. Auf dem Weg in eine andere Moderne“. Es werde unhaltbar, denn tatsächlich sei die entschiedene Verteidigung des Wohlstandes und der etablierten Strukturen die oberste Priorität unserer Gesellschaften. „Seit Corona, dem Krieg in der Ukraine, der erhöhten Inflation und dem neuen Wettbewerb mit autokratisch-autoritären Systemen gilt das mehr denn je.“ Die Umsetzung der Agrarwende, der Verkehrswende, der Energiewende oder verschiedener Artenschutzprogramme erfahre demgegenüber scharfen Gegenwind. Der Klimaaktivismus ebenso.
Zeitenwende in der Sozialwissenschaft
Für die Sozialwissenschaften, betont Blühdorn, sei es daher an der Zeit, aus dem Dualismus von Einsicht oder Untergang auszubrechen. Dabei geht es ihm nicht einfach um eine „realistischere“ Nachhaltigkeitspolitik, die akzeptiert, dass es etwa für das 1,5-Grad-Ziel in der Klimapolitik faktisch zu spät ist und sich bemüht, die inzwischen unübersehbar gewordene Krise so zu gestalten, dass die Freiheit und Demokratie, der soziale Zusammenhalt und das Gemeinwohl gesichert werden. „Vielmehr muss die Soziologie eine Gesellschaft in den Blick bekommen, die sich von genau diesen Idealen schrittweise verabschiedet oder sie radikal neu interpretiert“, sagt Ingolfur Blühdorn. An ihre Stelle treten das immer offenere Bekenntnis zu Ungleichheit und Ausgrenzung, die Skepsis gegenüber der Demokratie und ihren Institutionen sowie zunehmend das Vertrauen auf das Recht des Stärkeren.
Für die Sozialwissenschaften gehe es entsprechend darum, das Ende des öko-emanzipatorischen Projekts und damit einer ganzen Ära zu erfassen, argumentiert Blühdorn: „Das ist eine besondere Herausforderung, weil eine soziologisch aufrichtige Gesellschaftsbeschreibung dem etablierten Selbstverständnis unserer Gesellschaften und auch der Sozialwissenschaften widerspricht.“ Diese Widersprüche werden immer deutlicher sichtbar und sind längst Teil unserer Lebenswelt geworden: Die ökologischen Verheerungen werden immer sichtbarer – und die SUVs auf unseren Straßen immer größer. In unseren spätmodernen Gesellschaften wird stets der Anspruch auf Freiheit und Selbstbestimmung hochgehalten, doch die Komplexität unserer Lebenswelt führt längst zu lähmender Überforderung. Im politischen Diskurs wird Demokratie immer lauter betont, doch demokratische Ambivalenz ist weit verbreitet – bis hin zu antidemokratischen Gefühlen. „Für das Verständnis unserer Gegenwartsgesellschaften, ihrer Konflikte und ihrer Perspektiven“, sagt Ingolfur Blühdorn, „ist der soziologische Perspektivenwechsel vom Paradigma der Nachhaltigkeit zu dem der Unhaltbarkeit unverzichtbar.“
Eine anspruchsvolle Agenda
Blühdorn ist als „einer der anregendsten Theoretiker der Nachhaltigkeitsdebatte“ bezeichnet worden und als Urheber der „am weitesten entwickelten und avanciertesten Demokratietheorie“. Mit seinem neuen Buch legt er seinen Ansatz zu einer Soziologie der Unhaltbarkeit dar – mit dem Ziel, die gesellschaftstheoretischen Grundlagen der Umwelt- und Nachhaltigkeitssoziologie zu befestigen. Denn wesentliche Teile der einschlägigen Literatur bewegen sich noch immer hauptsächlich im Bereich des Wünschens, Hoffens und Appellierens.
Gleichzeitig soll das Buch zu einer Theorie spätmoderner Gesellschaften beitragen. Ebenso wie in weiten Teilen der Nachhaltigkeitsliteratur die Gesellschaftstheorie eine Leerstelle ist, sei nämlich in der soziologischen Theorie oft das ökologische Thema eine Schwach- oder sogar Leerstelle. Und schließlich zielt Blühdorn, ohne dabei ins Spekulieren zu verfallen, auf eine Theorie der „nächsten Gesellschaft“ jenseits unserer heutigen Gesellschaften der Nicht-Nachhaltigkeit.
Details zur Publikation und weitere Informationen
Blühdorn, Ingolfur (2024), Unhaltbarkeit. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Berlin: Suhrkamp Verlag.
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