Außenansicht des D3 und des AD Gebäudes

Siedlerbewegung

Freiland – Innenkolonisation – Siedlerbewegung

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde auch die „Innenkolonisation“ zu einem heiß diskutierten Thema. Die Verknappung des Wohnraumes und die schlechte Versorgungslage bescherten der Siedlungsbewegung erheblichen Zulauf. Zur Jahreswende 1919/20 wurde in Wien die Neue Gesellschaft als Verband zur Förderung der Siedlungstätigkeit und der genossenschaftlichen Produktion gegründet. Zielgruppe waren an die 40.000 Siedler/innen , die zu diesem Zeitpunkt in etwa zwei Dutzend Vereinigungen organisiert waren. Führend tätig wurde in der Neuen Gesellschaft Georg Hanisch.
(Bildquelle: Das erste Brettldorf in Wien, in: Theophilus Muth: Die Russenkirche im Franz Josephs-Lande, München 1921, 3)

Erleichterungen hinsichtlich der Wohnsituation hatten bereits die Einwohner des ersten unweit von Kaisermühlen gelegenen „Brettldorfes“ um 1900 gesucht. Zunächst nur von armen Müllsammlern bewohnt, hatten sich bald auch Arbeiterfamilien angesiedelt, die der Hausherrenwillkür und dem Mietzinswucher in Wien entgehen wollten. Da die Ansiedlung illegal war, wurde vonseiten der Gemeinde gegenzusteuern versucht – jedoch ohne großen Erfolg. International erlebte das Thema Bodenreform gerade einen Aufschwung, nachdem sich auch pazifistische Intellektuelle in sogenannten Tolstoi-Kommunen zusammenfanden, die aus England kommende Gartenstadt-Idee die Kreativszene befruchtete und in Deutschland der Kreis um Gustav Landauer das ökolibertäre Ziel eines „Austritts aus dem Kapitalismus“ formulierte. Wie das erste „Brettldorf“ erwiesen sich auch die zu Beginn der Zwischenkriegszeit gegründeten Siedlungen als „Kinder der Not“. Menschen zogen zahlreich in einfache Behausungen an der Stadtgrenze oder im Wiener Wald und nutzten ihre Gärten zur Verbesserung der Ernährungslage. Immer wieder kam es dabei zu illegalen Landnahmen in der Lobau, auf der Schmelz und auf dem Bruckhaufen. Der Lyriker Theodor Kramer hielt dazu fest: „Im Stromland wächst / ein Bretterdorf / auf Kies und Schutt gebaut … .“ Westlich von Wien entstand eine Tolstoi-Kolonie, die Projekte „Eden“, „Zukunft“ und „Menschenfrühling“ wurden in unmittelbarer Nähe davon errichtet. Verschiedene alternative und subkulturelle Strömungen umfassend, präsentierte sich die Siedlungsbewegung als ein eher heterogenes Gefüge. Dennoch wurde sie als eine starke eigenständige Kraft wahrgenommen. Auf machtvollen Demonstrationen forderten die Siedler/innen öffentliche Unterstützung in Form von Baumaterialien und Krediten sowie die nachträgliche rechtliche Anerkennung der Bodenokkupationen. Aus einer von einigen Hundert Arbeiterfamilien 1920 besetzten Bodenfläche am Wiener Rosenhügel wurde so eine offiziell bestätigte Siedlungsgenossenschaft. Die wilde Landnahme auf dem Gebiet des Lainzer Tiergartens schuf 1920 das Fundament für die spätere „Friedensstadt“. Prominente Kulturschaffende wie Adolf Loos, Josef Frank oder Margarete Schütte-Lihotzky förderten die Siedlungsbewegung nach Kräften. Otto Neurath bemühte sich, den Kleingartenkolonien und Gartenvorstädten eine Struktur zu geben (Gemeinschaftseinrichtungen, Schulen, Arztpraxen) und in eine umfassende Stadtplanung miteinzubeziehen. Hinsichtlich der Vorgangsweise der Stadtverwaltung war jedoch keine einheitliche Linie festzustellen. Hauptorientierungspunkt der Wohnungspolitik blieb der Gemeindebau in der Variante des „Superblocks“. Daneben war man bereit, in begrenztem Rahmen die Siedlungstätigkeit zuzulassen. Das Interesse an einer unabhängigen Bewegung war jedoch gering, sodass ab Mitte der 1920er Jahre die noch bestehenden „anarchistischen“ Projekte zunehmend bekämpft wurden. Ein erbitterter Widerstand vonseiten der betroffen Siedler/innen war die Folge. Doch allein durch Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise blieb die Innenkolonisation ein Dauerthema. Ab 1930 wuchs die Zahl der Erwerbslosensiedlungen sogar wieder an. Im Austrofaschismus kam eine seltsame Zweigleisigkeit zum Vorschein. Während bestehende Kolonien mit dem Aus bedroht wurden, kam es zur Zwangsumsiedlung von Arbeitslosenfamilien in stillgelegte Gutshöfe am Lande, wo sie versorgungsmäßig sich selbst überlassen wurden. Für das NS-Regime war die Siedlungstätigkeit wenig bedeutsam, so wie die Wohnbaupolitik insgesamt. Nach dem Zweiten Weltkrieg existierten rund um Wien noch einige der „Brettldörfer“; erst Anfang der 1960er Jahre sollten sie schließlich verschwinden.

Literatur:
  • Alfred Georg Frei: Die Arbeiterbewegung und die „Graswurzeln“ am Beispiel der Wiener Wohnungspolitik 1919-1934, Wien 1991.

  • Robert Hoffmann: „Nimm Hack' und Spaten ...“. Siedlung und Siedlerbewegung, Wien 1987.