Nicht nur ein Kostenfaktor: Lohn statt Taschengeld für Menschen mit Behinderung?
Welche finanziellen Auswirkungen hat es, wenn für Menschen mit Behinderungen, die in Werkstätten arbeiten, eine sozialversicherungspflichtige Entlohnung eingeführt wird? Das haben Forscher*innen der Wirtschaftsuniversität Wien (WU) in einer Studie untersucht. Nun liegen die Ergebnisse vor.
Welche finanziellen Auswirkungen hat es, wenn für Menschen mit Behinderungen, die in Werkstätten arbeiten, eine sozialversicherungspflichtige Entlohnung eingeführt wird? Das haben Forscher*innen der Wirtschaftsuniversität Wien (WU) in einer Studie untersucht. Nun liegen die Ergebnisse vor.
Rund 28.000 Menschen mit Behinderungen sind derzeit in Tages- und Beschäftigungsstrukturen der Bundesländer tätig. Je nach Schweregrad der Behinderung und individuellen Fähigkeiten unterscheidet sich das Angebot: Es reicht von basalen Förderungen für Personen mit sehr hohem Unterstützungsbedarf über Beschäftigungstherapien bis hin zu beruflichen Qualifizierungsangeboten und arbeitsmarktähnlichen Tätigkeiten. Im alltäglichen Sprachgebrauch ist dabei meist von „Werkstätten“ die Rede. Im Rahmen der dortigen Beschäftigung sind Menschen mit Behinderungen unfallversichert und bekommen für ihre Tätigkeiten ein Taschengeld, das je nach Bundesland 35 bis knapp 100 Euro pro Monat ausmacht.
Das Regierungsprogramm 2020–2024 sieht vor, dass auch Beschäftigte in Tages- und Beschäftigungsstrukturen der Bundesländer in Zukunft eine Entlohnung mit sozialversicherungsrechtlicher Absicherung anstelle eines Taschengeldes erhalten sollen. Die dazu notwendigen Schritte sollen gemeinsam mit den dafür zuständigen Bundesländern erarbeitet werden. „Damit würde eine langjährige Forderung der Interessensvertretungen von Menschen mit Behinderungen umgesetzt werden“, erklärt Selma Sprajcer vom WU Kompetenzzentrum für Nonprofit-Organisationen und Social Entrepreneurship. Sie wurde im Jahr 2021 vom Sozialministerium beauftragt, gemeinsam mit ihren Kollegen Christian Grünhaus und Benedikt Nutzinger eine Studie durchzuführen, um die finanziellen Auswirkungen einer solchen Umstellung zu berechnen. Die Forscher*innen konnten hierfür auf einen eigens erstellten Individualdatensatz zurückgreifen. Benedikt Nutzinger, einer der Studienautoren, führt dazu aus: „Die Herangehensweise über Individualdaten ließ weit genauere Berechnungen zu als nur über Durchschnitte zu gehen, was die Qualität der Ergebnisse steigert und Freude bei der Analyse machte.“
Wer gewinnt, wer verliert?
Die Forscher*innen haben für ihre Berechnungen den derzeitigen Ist-Zustand mit einem Alternativ-System verglichen, bei dem eine Entlohnung in der Höhe von 1.180 Euro brutto (14-mal pro Jahr) das bisherige Taschengeld ersetzt. Der Betrag wurde so festgelegt, da ab dieser Höhe vielfach keine weiteren Leistungen aus der Sozialhilfe bezogen werden müssen. Doch während diese Ansprüche wegfallen würden, bietet das Alternativ-System die Möglichkeit, Versicherungszeiten zu sammeln und damit einen Anspruch auf eine Alterspension zu erwerben.
Für Menschen mit Behinderungen würde die Einführung eines Lohnes zu einem deutlichen Anstieg des Einkommens führen – die deutlich über dem Taschengeld liegende Entlohnung würde also Kürzungen bei Transferleistungen wie Sozial- oder Familienbeihilfe überkompensieren. Die betroffenen Personen könnten mit einem durchschnittlichen Plus von rund 188 Mio. Euro pro Jahr rechnen. „Das sind immerhin rund 5.240 Euro zusätzliches Einkommen im Jahr für eine durchschnittliche Person mit Behinderung“, betont Studienautor Christian Grünhaus.
Von der Umstellung würden aber nicht nur Menschen mit Behinderungen finanziell profitieren – sondern auch die Sozialversicherung. Einerseits könnte sie mit deutlich höheren Sozialversicherungsbeiträgen rechnen, andererseits würden die Ausgaben für Waisen- und Invaliditätspensionen sinken. Der Mehraufwand für Alterspensionen wäre demgegenüber geringer, da Menschen mit Behinderungen oft eine unterdurchschnittliche Lebenserwartung aufweisen. Insgesamt würde die Sozialversicherung mit einem Plus von durchschnittlich 209 Mio. Euro pro Jahr sehr positiv aussteigen.
Auch auf den Bund würde sich die Systemumstellung minimal positiv auswirken: einerseits durch höhere Lohnsteuereinnahmen und Dienstgeberbeiträge, andererseits durch geringere Ausgaben für die Familienbeihilfe. Mit den höheren Ausgaben gegengerechnet, ergäbe sich für den Bund ein Einnahmenzuwachs von durchschnittlich 2,7 Mio. Euro pro Jahr.
Da die Tages- und Beschäftigungsstrukturen in Österreich im Kompetenzbereich der Bundesländer liegen, hätten diese allerdings als einzige Stakeholder mit Mehrkosten zu rechnen. Insgesamt würde sich für die Länder ein Minus von rund 402 Mio. Euro durchschnittlich pro Jahr ergeben. Die höheren Kostenbeiträge, die von den Personen in Werkstätten an die Länder fließen, aber auch die geringeren Sozialhilfeausgaben der Länder, können die deutlich gestiegenen Ausgaben für die im Alternativ-System eingeführte Entlohnung bei weitem nicht kompensieren.
Die Trägerorganisationen der Tages- und Beschäftigungsstrukturen – zumeist Nonprofit-Organisationen – können hingegen als Durchläufer betrachtet werden: Sie haben kaum die Möglichkeit, aus eigenen Mitteln eine Entlohnung zu tragen. Darum werden sie für die notwendigen Mittel auf die Länder angewiesen sein. Die Trägerorganisationen würden sich allerdings die derzeit bezahlten Unfallversicherungsbeiträge ersparen, sofern die Länder dies nicht mit den Beträgen für die Entlohnung gegenrechnen.
Insgesamt müssten mit der Einführung einer sozialversicherungspflichten Entlohnung in Höhe von 1.180 Euro brutto durchschnittlich rund 573,5 Mio. Euro pro Jahr aufgewendet werden, im Vergleich zum Ist-Zustand würde die finanzielle Mehrbelastung etwa 191 Mio. Euro pro Jahr betragen. „Die finanzielle Belastung der Einführung eines sozialversicherungsrechtlichen Entgelts für Menschen mit Behinderung ist somit überschaubar, wenn Bund, Länder und Sozialversicherungen gemeinsam betrachtet werden“, führt Studienautor Christian Grünhaus aus.
Bundesregierung kündigt Gespräche an
In einem weiteren möglichen Szenario haben die Forscher*innen auch eine Entlohnung in der Höhe der Geringfügigkeitsgrenze untersucht. Insgesamt wäre hier mit einer Mehrbelastung von rund 136 Mio. Euro pro Jahr zu rechnen – also nur etwa ein Viertel weniger als in den Hauptberechnungen. Einerseits würde deutlich weniger Geld bei den betroffenen Personen ankommen, andererseits würden die Ausgaben für bestehenbleibende Pensionen und Sozialleistungen aufrecht bleiben.
Allerdings gibt Studienautorin Selma Sprajcer zu bedenken: „Die geforderte weitgehende Unabhängigkeit der betroffenen Menschen mit Behinderung vom Sozialsystem kann mit diesem Szenario nicht erreicht werden.“
Im Rahmen der Pressekonferenz haben Sozialminister Johannes Rauch sowie Arbeits- und Wirtschaftsminister Martin Kocher angekündigt, auf Grundlage der Studienergebnisse nun Gespräche mit den zuständigen Bundesländern aufzunehmen. Dabei sollen die Expertise des Sozialministeriums, des Arbeitsministeriums, der Sozialversicherung und des Österreichischen Behindertenrates mit einfließen. Ein erster Zwischenbericht dieses Prozesses soll bis zum Frühsommer 2024 vorliegen.
Detaillierte Ergebnisse der Studie und weiterführende Informationen
Sprajcer S., Nutzinger B., Grünhaus C. (2023): Studie zu den Kosten einer sozialversicherungspflichtigen Entlohnung von Menschen mit Behinderungen in Tages- und Beschäftigungsstrukturen – „Lohn statt Taschengeld“. Kompetenzzentrum für Nonprofit-Organisationen und Social Entrepreneurship.
Link zur Studie und zum Forschungsportal