Hintere Außenansicht des D2 Gebäudes

Slavic Research Seminar

03. Mai 2017

Vortrag Mag. Dominique Sundt (Universität Wien): Speisen und Macht: Zur Vermittlung bestimmter Lebensweisen und Konstruktion nationaler Identität in russischen Kochbüchern. Eine kontrastive Analyse russischer Kochbuchliteratur zwischen 1840 und 1991

Zeit: 17:30 - 19:00 Uhr

Ort: WU, Gebäude D2, Eingang D, 2.OG, Besprechungsraum D2.2.228 

Abstract:

Das geplante Forschungsvorhaben behandelt die gesellschaftliche Bedeutung und Funktion von russischen Kochbüchern im Zeitraum 1840 und 1991. Davon ausgehend, dass vielfältige Wechselwirkungen zwischen Kochbüchern und geistigen Strömungen innerhalb einer Gesellschaft bestehen, liegt der Fokus der Untersuchung auf der Einflussnahme durch die Orthodoxe Kirche im 19. Jahrhundert und durch staatliche Organe im 20. Jahrhundert. Es soll nachgewiesen werden, ob und wie sich ideologisches Gedankengut – sei es politisch, wirtschaftlich oder religiös motiviert – in den Kochbüchern wiederfindet . Die Untersuchung erfolgt dabei auf mehreren Ebenen: Text, Bild und kontextuelle Einbettung der Kochbücher. Einerseits liegt der Schwerpunkt auf den konkreten Inhalten, wobei hier zwischen den Kochrezepten als eigentliche Gebrauchstexte und den Begleittexten (Vorwort, Glossar, etc.) getrennt werden muss. Andererseits ist die konzeptionelle Gestaltung der Kochbücher als Gesamtwerk von Interesse. Darüber hinaus sind besonders die Umstände ihrer Entstehung interessant. Anknüpfungspunkte dazu bietet die schon bestehende Forschung zu deutsch - und englischsprachigen Kochbüchern , wobei diese sich hauptsächlich auf Syntax und Pragmatik der Texte aus linguistischer und translatorischer Perspektive bezieht ; semantische Aspekte werden nur am Rande behandelt . Dazu kommen Studien (vor allem aus den Geschichts - und Kulturwissenschaften), die sich mit dem Zusammenhang von Speisen und Macht beschäftigt haben.

Die Analyse soll anhand des Vergleichs zweier exemplarischer Werke erfolgen , die auf Grund ihres hohen Bekanntheits - und Verbreitungsgrades gewählt wurden : Подарок молодым хозяйкам (Geschenk für junge Hausfrauen, Erstausgabe 1861) und Книга о вкусной и здоровой пище (Das Buch vom schmackhaften und gesunden Essen, Erstausgabe 1939). Beide Werke liegen in mehrfacher, immer wieder überarbeiteter und erweiterter Auflage vor. Dem vorangestellt soll eine Übersicht und Katalogisierung russischer Kochbuch - Publikationen erfolgen, da eine solche bis jetzt noch nicht existiert. Russische Kochbücher (im Gegensatz zu europäischen) wurden bis dato kaum als Untersuchungsgegenstand herangezogen. Im Zuge der Analyse soll sich zeigen, welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den vor - und nachrevolutionären Kochbüchern bestehen, besonders im Hinblick auf folgende Fragen:

- Welche speziellen Merkmale in Bezug auf Form, Inhalt und Sprache (auch Bildsprache) lassen sich belegen?

- In welchen Formen manifestiert ideologisches Gedankengut (politisch, gesellschaftlich, religiös) explizit und implizit in den Kochbüchern?

Spezielles Augenmerk liegt auf dem angestrebten Ideal für Küchen - und Haushaltsbelange, im weitesten Sinne Familienleben und Lebensführung allgemein, das durch die Kochbücher vermittelt wird. Eine wichtige Rolle spielt hier Essen als Kulturphänomen und seine Bedeutung für kulturelle Identität (Essen als identitätsstiftendes Merkmal). Kulinarisches Handeln, das primär zur Lebenserhaltung durch Nahrungszufuhr dient, ist immer auch sozialsymbolisches Handeln, es hat neben einer kognitiven und kommunikativen auch eine sozialsymbolische Funktion. Eine Aufschlüsselung dieses kulinarischen Handelns gewährt einen Einblick in grundlegende gesellschaftliche Strukturen einer Kultur. Kochbücher verfügen über eine bedeutende Aufzeichnungs - und Vermittlerfunktion solch kulinarischer Traditionen, deren Erforschung nur unter Bezugnahme auf den historischen und kulturellen Slavic Research Seminar WU Wien 03.05.2017 2 / 2 Kontext sinnvoll ist. Frühere Studien haben gezeigt, dass ihre Inhalte und kommunikativen Bezüge weit über die Vermittlung von Fachwissen und reiner Handlungsanleitung hinausgehen. Es ist anzunehmen, dass neben dem geänderten Machtverhältnis von Kirche und Staat auch Einflüsse durch die wirtschaftliche Versorgungslage, neue wissenschaftliche Erkenntnisse und technische Entwicklungen ebenso wie rationalisiertes Zeitman agement für Haushaltsbelange vorkommen, aber auch neue Ansätze zum Rollenbild der Frau und dem Stellenwert der Familie sollen erfasst werden.

Die Grundlagen für die Untersuchung der ausgewählten Werke bietet die Textlinguistik. Die entscheidende Frage ist, wie und weshalb Texte konstruiert werden. Es wurde ein textfunktionaler Zugang gewählt; dessen Ansatz baut auf der Sprechakttheorie auf, in der ein Text als komplexe sprachliche Handlung betrachtet wird, eingebettet in eine bestimmte Kommunikationssituation und versehen mit einer bestimmten kommunikativen Funktion. Daran anschließend soll auch das Text -Bild -Verhältnis untersucht werden. Um darüber hinaus auch den Kontext und die gesellschaftliche Bedingungen mit einzubeziehen, wird als ergänzende Methode eine Diskursanalyse angewendet. Diese analysiert Texte sowohl in Bezug auf Form und Inhalt als auch auf diskursive Zusammenhänge über die Grenzen des Textkorpus hinaus. 

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