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Linguistikzirkel 11.05.2021

11. Mai 2021

Dr. Gernot Howanitz (Institut für Slawistik, Universität Innsbruck) "Osteuropäische Propaganda im Kontext. Deep Learning anhand eines Korpus politischer YouTube-Clips" (18-20 Uhr virtuell Zoom)

Abstract

YouTube entwickelt sich immer mehr zum Leitmedium im russischsprachigen Teil des Internets; 2020 nutzten 82% der 14–64-jährigen russischen Internetuserinnen und -user diese Plattform täglich, es ist damit das erfolgreichste soziale Medium in Russland. Aus diesem Grund ist es von entscheidender Bedeutung für die slawistischen Kultur- und Medienwissenschaften, Analysetools für diese Plattform zu entwickeln. Der Vortrag möchte zeigen, wie dank der jüngsten Fortschritte im Bereich der künstlichen Intelligenz ein großes Videokorpus in einem Methodenmix sowohl qualitativer als auch quantitativer Verfahren erfasst werden kann. 

Dies ist insofern beachtenswert, als die Digital Humanities nach wie vor sehr textlastig sind. Erst seit 2017 halten hier Methoden der Computer Vision Einzug, aber die entsprechenden Projekte beschränken sich in der Regel auf die Nutzung vortrainierter Netze. Für viele kulturwissenschaftliche Forschungsprojekte ist aber ein selbst durchgeführtes, auf die Fragestellung abgestimmtes Training notwendig. Ein solches Training neuronaler Netze ist jedoch keineswegs trivial, sondern erfordert eine Menge Vorarbeit, Wissen um grundlegende Trainingsstrategien und Erfahrung im Tweaken der Parameter.  

Anhand dreier Testfälle geht der Vortrag der Frage nach, wie einschneidende Ereignisse der jüngeren Vergangenheit auf YouTube kontextualisiert werden. Konkret analysiert werden Videos über den ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera (1909-1959), über den prominenten russischen Oppositionellen Aleksej Naval’nyj und über den eben wiedergewählten belarusischen Präsidenten Aljaksandr Lukašėnka. Gerade in den beiden letzteren Fällen gibt es zahlreiche YouTube-Videos, die millionenfach angesehen wurden und mithalfen, den Protest auch auf die Straße zu tragen (in Belarus wird seit August 2020 protestiert, in Russland seit Ende Jänner 2021). In diesen Videos spielen visuelle Symbole eine große Rolle, so verwenden die Protestierenden in Belarus nicht die offizielle Flagge und das offizielle Wappen, die beide aus der Sowjetzeit stammen, sondern jene der ersten unabhängigen belarusischen Republik von 1918. Solche Symbole sollen nun automatisiert erfasst werden. Eigens trainierte Deep-Learning-Netze suchen deshalb in den rund 2500 YouTube-Videos des Korpus automatisch nach 45 vordefinierten nationalistischen Symbolen und 40 Politikerinnen und Politikern, was Rückschlüsse auf den jeweiligen propagandistischen Kontext eines Videos erlaubt und das Symbolinventar osteuropäischer Propagandadiskurse im Netz offenlegt.

Bio

Gernot Howanitz ist Assistenzprofessor für Slawische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Innsbruck. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen russische, polnische und tschechische Literatur von 1850 bis heute, Rezeptionstheorien, (Auto-)Biographietheorie, Erinnerungskulturen, Neue Medien in Ost(mittel)europa sowie Digital Humanities.

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