Wirtschaftskommunikation

Entscheidung in und für Europa

06. Mai 2024

Die EU als Sammelbecken von Nationalstaaten ist wirtschaftlich gegenüber den USA und China ins Hintertreffen geraten. Erst der Krieg in der Ukraine beschleunigt die integrativen Bestrebungen. Die geopolitischen Weichen der Zukunft Europas werden jedenfalls in den nächsten fünf Jahren gestellt.

KeyVisual Europa

Die Europawahlen finden vom 6. bis 9. Juni statt. Rund 400 Millionen Menschen in der Europäischen Union haben dabei aktives Wahlrecht.Gewählt werden 720 Vertreter*innen im Europa-Parlament – 20 kommen davon aus Österreich. Diese stimmen über Handelsabkommen ab, kontrollieren die EU-Organe und prüfen die Verwendung von Steuergeldern. Trotzdem hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass für viele Menschen die Europawahlen deutlich weniger wichtig sind als nationale Wahlen. Ein Paradoxon: Je mächtiger das Europäische Parlament in seinen Befugnissen wurde, je mehr es aktiv über die Politik der EU nicht nur beraten, sondern auch entscheiden durfte, desto geringer war die Wahlbeteiligung.

In der nächsten fünfjährigen Legislaturperiode des Europäischen Parlaments werden die Weichen gestellt, wie groß die Bedeutung eines vereinten Europas in Zeiten geopolitischer Veränderungen und kriegerischer Auseinandersetzungen sein wird. Gabriele Tondl, außerordentliche Professorin am WU Department für Volkswirtschaft und Leiterin des Europainstituts der WU, ist überzeugt, dass Europa ein Dach wie die EU benötigt, denn „nur über einen starken gemeinsamen wirtschaftlichen, politischen und auch militärischen Rahmen wird Europa seine Position im Machtgefüge der Welt behaupten können.“ Dabei bestehe die Gefahr, dass die Position Europas nicht nur durch die Weltmächte USA und China geschwächt werde. Tondl: „Auch aufstrebende, dynamische Volkswirtschaften – Stichwort BRICS – erlangen wachsende wirtschaftliche Positionen und dementsprechend politischen Einfluss.“ Für Karl Aiginger, Ehrenprofessor am WU Department für Volkswirtschaft, entscheiden die Europawahlen vieles: „Ob Europa eine führende Rolle in der neugeordneten Welt übernehmen kann, mit Afrika als Partner und als Vorbild in Demokratie. Ob Europa in der Klimapolitik zum Vorbild wird, ob es dem Nationalismus und drohenden Protektionismus abwenden kann.“

Nicht auseinanderdividieren lassen

Damit europäische Anliegen mit hinreichendem politischen und wirtschaftlichen Gewicht nach außen vertreten werden können, ist ein vereintes Europa essenziell. „Würden sich die EU-Mitgliedstaaten ‚auseinanderdividieren‘ lassen, wäre nicht nur die EU insgesamt schwächer“, meint Erich Vranes, Vorstand des WU Instituts für Europarecht und Internationales Recht. Vor allem kleine und mittlere Mitgliedstaaten würden Gefahr laufen, international nachhaltig an Einfluss zu verlieren. Insgesamt dürften sich die Herausforderungen für die europäische Integration und den Zusammenhalt der EU künftig zunehmend in den Außenbeziehungen der Union stellen, Stichwort: „Die EU als geopolitischer Akteur“.

Moderne Ziele

Flag WU

Zweifellos ist die EU wirtschaftspolitisch gegenüber den USA und China ins Hintertreffen geraten. Die Frage stellt sich, wie die EU wieder an Terrain gewinnen kann. Für Aiginger ist Europa nur nach alten Indikatoren, wie Wachstum oder Arbeitsproduktivität, zurückgefallen: „Die EU führt in den moderneren Zielen wie Lebensqualität, Nachhaltigkeit. Offenheit und in Frieden, sowie bei Fairness der Wahlen. Sie führt genauso in der Klimapolitik, wenn auch nach Ländern und Regierungen unterschiedlich.“ Die USA könne nicht mehr als Vorbild dienen aufgrund eines schlechten Gesundheitssystems und gesundheitlichen Problemen der Bevölkerung. China wiederum habe neben seinem bewundernswerten Wachstum eine egoistische, autoritärer Führung und die Bevölkerung beginne durch die staatlich verordnete Ein-Kind-Politik zu schrumpfen.

Laut Tondl sei es jedoch unumgänglich, dass Probleme in den Mitgliedstaaten von der Gemeinschaft sehr ernst genommen werden müssen: „Interessanterweise finden sich, zuerst vermeintlich individuelle, Probleme – wie etwa beim Rechtsextremismus zu sehen – oft sehr schnell auch in anderen EU-Staaten.“ In einer wirtschaftlich und kulturell so stark zusammengewachsenen Gemeinschaft würden sich immer mehr gemeinsame Probleme manifestieren, die gemeinschaftliches Handeln erfordern.

Nationale Gerichte entscheiden EU-kritisch

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) ist eine von den Mitgliedstaaten wie auch von den anderen Organen der EU unabhängige Einrichtung. Insofern sind unmittelbare Auswirkungen eines erfolgreichen Abschneidens europakritischer Parteien bei den bevorstehenden Wahlen zum EU-Parlament mit Blick auf die Rechtsprechung des EuGH nicht zu erwarten. Ein zunehmendes Problem stellen aber laut dem Rechtsexperten Vranes EU-kritische Entscheidungen nationaler Gerichte dar, indem sie insbesondere den Vorrang des EU-Rechts gegenüber nationalem Recht bzw. gegenüber nationalen Gerichtsentscheidungen nicht oder nur eingeschränkt anerkennen. Vranes: „Der Vorrang des EU-Rechts ist grundlegend für das Funktionieren der europäischen Integration und des Binnenmarktes. Denn der grundsätzliche Vorrang des EU-Rechts vor nationalem Recht garantiert ein ebenes Spielfeld, das heißt einen funktionierenden Binnenmarkt als Kern und Zugpferd der europäischen Integration.“

Prof Aiginger

Prof. Mag.Dr. Karl Aiginger

Karl Aiginger ist Professor am Department für Volkswirtschaft der Wirtschaftsuniversität Wien und Vorsitzender der Europaplattform: Wien – Brüssel. 2005 bis 2016 war er Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (WIFO) und 2012 bis 2016 Koordinator des Projektes "WWWforEurope", das vom WIFO gemeinsam mit 34 Partnern innerhalb der 7. Rahmenprogrammes der EU erarbeitet wurde.

Prof. Tondl

ao.Univ.Prof. Dr. Gabriele Tondl

Gabriele Tondl ist Professorin am Department für Volkswirtschaft. Ihre Schwerpunkte liegen in den Bereichen 

  • Internationale Wirtschaft

  • Europäische Integration

  • Regionalökonomie

Prof Vranes

Univ.Prof. Dr. Erich Vranes, LL.M.

Erich Vranes, LL.M. ist Leiter des Instituts für Europarecht und internationales Recht an der WU Wien.

Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen:

  • Europarecht

  • Grundrechtsschutz

  • Völkerrecht

  • Europäisches Wirtschaftsrecht

  • Internationales Wirtschaftsrecht, WTO-Recht

  • EU-Außenbeziehungen

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